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  • AutorenbildLars Kalthoff

Im Käfig der Freiheit

Moderne Videospiele versprechen dem Spieler offene Spielwelten, zahlreiche Dialogoptionen und unterschiedliche Enden, die aus den Entscheidungen des Spielers hervorgehen. Kaum ein Entwickler versäumt es, bei der Vorstellung seines Spiels eine ominöse, selten näher definierte "spielerische Freiheit" hervorzuheben. Trotz der Relevanz des Begriffs "Freiheit" in der Vermarktung digitaler Spiele und der absolut positiven Konnotation des Wortes selbst, bergen offene Spielwelten und -systeme markante Schwächen, derer sich Designer und Autoren zu jeder Zeit bewusst sein sollten:

1. Freiheit kann Spieler überfordern und verunsichern

Die Aufforderung, aus einer Vielzahl an unterschiedlichen Handlungsoptionen eine passende Option auszuwählen, kann oftmals einen Zustand der Überforderung beim Spieler auslösen. Allein der Gedanke, alle Alternativen in Betracht ziehen und miteinander vergleichen zu müssen, kann geradezu beängstigend wirken und führt nicht selten dazu, dass entweder eine vorgesehene Standardoption ausgewählt wird oder dass die Entscheidung schlichtweg dem Zufall überlassen wird. Dieser Effekt, der an ein "spielerisches Überangebot" erinnert, tritt sowohl im Kleinen, wie beispielsweise bei zu detaillierten Systemen der Charaktererstellung, als auch im Großen bei der Navigation durch eine frei begehbare Welt, auf.

Manche Editoren zur Erstellung der Spielfigur erschlagen den Spieler geradezu mit der Menge an unterschiedlichen Auswahloptionen.

Auch wenn die Überforderung durch eine unüberschaubare Menge an Handlungsalternativen bei einigen Spielertypen sicher schwerer wiegt als bei anderen, sollten Entwickler die Gefahr des Überangebots für einen Teil ihrer Zielgruppe ernst nehmen und diesem bestmöglich vorbeugen. Das ist zum Beispiel dadurch möglich, dass eine klar identifizierbare und vom Entwickler vorgesehene Option kenntlich gemacht wird oder dass eine überschaubare Menge an Handlungsalternativen speziell hervorgehoben wird.

Den Spielern, die aktiv nach Freiheit suchen, wird es nicht schwer fallen, die dezenten Hinweise der Entwickler geflissentlich zu ignorieren und ihren eigenen Weg zu finden.

Neben der Überforderung, kann zu viel Freiheit, gerade im Bezug auf die Gestaltung von Levels und Welten, für Verunsicherung und Ziellosigkeit sorgen. Die meisten Spieler werden sich sicher an einen Moment erinnern, in dem ihnen die Frage "Sollte ich hier überhaupt sein?" in den Sinn kam. Spiele mit gewaltigen offenen Welten eignen sich besonders gut dafür, dem Spieler von Zeit zu Zeit das Gefühl zu geben, er hätte sich verirrt.

Das auftretende Gefühl, das Spiel falsch zu konsumieren, ist nicht nur der Spielerfahrung als solcher abträglich, sondern stellt außerdem einen Bruch in der Immersion des Spiels dar, weil der Spieler verzweifelt einen vom Entwickler vorgesehenen Weg sucht, der möglicherweise überhaupt nicht existiert.

2. Freiheit erschwert das Storytelling

Die Freiheit, in einem Spiel tun und lassen zu können, was man will und die angebotenen Spielinhalte in selbst gewählter Reihenfolge wahrzunehmen, birgt gewaltige Probleme für das Erzählen einer konsequenten und authentischen Geschichte.

Da sich alle Geschichten im Kern um einen Konflikt drehen und die Charaktere meistens klare Ziele verfolgen, entsteht eine Dringlichkeit, die in Spielen kaum abbildbar ist.

Frodo hat in "Der Herr der Ringe" die Aufgabe, den Ring der Macht zu zerstören, bevor Sauron den Rest der Welt unterwirft. Er hat somit während der gesamten Handlung eine klare Aufgabe, die seine Handlungen bestimmt und ihn zudem unter Zeitdruck setzt.

In offenen Spielen hat der Spieler nur selten eine klare Aufgabe. Vielmehr wird der Hauptcharakter als Problemlöser dargestellt, der ständig damit beschäftigt ist, kleinere und voneinander unabhängige Aufträge zu erledigen.

Der Spieler verfolgt mehrere unzusammenhängende Aufgaben gleichzeitig, die alle noch zahlreiche Unteraufgaben besitzen.

Außerdem ist es dem Spieler selbst überlassen, wie viel Zeit er mit den verschiedenen Handlungsabschnitten und virtuellen Orten verbringen will.

Dringlichkeit zu erschaffen scheint dem Prinzip der Handlungsfreiheit also per se zu widersprechen. Im schlimmsten Fall stehen die Handlungen des Spielers zu den Zielen des Protagonisten so sehr im Widerspruch, dass es zu einem Bruch zwischen der vorgesehenen Geschichte des Spiels und den Interaktionen des Spielers kommt.

Der Spieler wird dadurch aus der Illusion einer authentischen Spielwelt herausgerissen und nimmt die Erzählung fortan höchstens auf einer unfreiwillig komischen Ebene wahr.

Man stelle sich vor, Frodo wäre mit dem Ring der Macht fröhlich zurück ins Auenland gereist, um einige Biere im Gasthaus "Zum Grünen Drachen" zu verköstigen, während Sauron Mittelerde ungestört mit Krieg überzieht und nach und nach erobert.

Den Ablauf der Handlung ohne Einschränkungen in die Hände des Spielers zu legen, führt dazu, dass die eingebaute Geschichte nur noch als belanglose und teilweise sogar störende Randnotiz wahrgenommen wird, während der Spieler die Dinge erledigt, die ihm eigentlich Spaß machen.

Abgesehen von den Problemen, die freie Spielsysteme für die konkrete Handlung mit sich ziehen, können sie auch das Etablieren und Ausdefinieren von Charakteren deutlich erschweren: Dadurch, dass die Handlungen und somit auch die Wertesysteme und bezeichnenden Eigenschaften der Protagonisten vom Spieler selbst bestimmt werden, erscheint es geradezu unmöglich, einen ausdefinierten und konsequent agierenden Charakter zu erschaffen. Ist Geralt von Riva aus der Spielreihe "The Witcher" ein kaltblütiger Söldner, der sich nur in Konflikte einmischt, die ihm einen direkten materiellen Vorteil verschaffen, oder doch ein etwas wortkarger, aber gutherziger Held, der auch uneigennützig handelt und sich in politische Komplotte einmischt, um einen König zu stürzen, der sein Volk in einen aussichtslosen Krieg führt?

Wie Geralt von Riva im Spiel handelt, hängt stark von den Entscheidungen des Spielers ab. Die Rückschlüsse, die sich daraus auf den Charakter des Hexers ziehen lassen können, unterscheiden sich teils erheblich.

Wer Geralt von Riva wirklich ist und was ihn ausmacht, entscheidet der Spieler und obwohl dieser Umstand positiv zur Spielerfahrung beitragen kann, verwundert es doch nicht, warum so wenige faszinierende Protagonisten aus Videospielen stammen.

Vom Spieler ausgestaltete Helden laufen nicht nur dem grundsätzlichen Prinzip eines Rollenspiels zuwider, nämlich spielend jemand anderes zu sein, sie limitieren außerdem die Möglichkeiten der Autoren: Ein Entwickler, der den Verlauf einer Handlung entwirft und somit auch festlegt, welche Figuren wie agieren, muss immer im Blick behalten, dass seine Wahrnehmung der Charaktere möglicherweise nicht denen der Spieler entspricht. Letztendlich bleiben kaum noch Möglichkeiten eine Geschichte zu beschreiben, bei der nicht mindestens ein kleiner Teil der Spieler aufschreit und beklagt, dass ihre Figur niemals so handeln würde, wie vom Entwickler bestimmt.


3. Freiheit zerstört das Pacing

Was der Rhythmus in der Musik ist, oder die Dramaturgie in der Literatur, nennt man in Spielen "Pacing". Es beschreibt die chronologische Anordnung einzelner Elemente eines Spiels im Gesamtkontext und deren Auswirkung auf die Spielerfahrung. Das Pacing, was von Designern detailliert konzipiert und ständig getestet wird, kann durch zu viel Freiheit im Spiel völlig umgeworfen werden, da für die Entwickler nicht mehr ersichtlich ist, auf welche Elemente der Spieler in welcher Reihenfolge und mit welchen bereits erlernten Fähigkeiten stößt.

Dasselbe gilt für sogenannte Interessenkurven, die die Faszination des Spiels auf den Spieler über die Dauer des gesamten Spiels zeitlich abbilden. Laut Jesse Schell, einem bekannten Game Designer und Autor, sollte die Interessenkurve im besten Fall etwa so aussehen:

Auch wenn man sich über den genauen Verlauf des Graphen sicher streiten kann, ist klar, dass ein Spiel aus clever gesetzten Höhepunkten bestehen sollte, die sich mit gut dosierten Ruhephasen und Phasen steigender Spannung abwechseln sollten. Dem Spieler die Freiheit zu geben, die existierenden Phasen in selbst gewählter Reihenfolge und Dauer zu erleben, führt häufig dazu, dass Spieler das Interesse vollständig verlieren, da beispielsweise Ruhephasen zu lange ausgedehnt werden oder optionale Höhepunkte, wie ein besonders spannender Auftrag, übersehen und gar nicht erst wahrgenommen werden.

Abgesehen von Pacing und Interessenkurven, wird bei der Entwicklung von Spielen oftmals vom sogenannten "Flow" gesprochen, der mit den vorhergegangen Elementen stark verwandt ist. Beim Flow handelt es sich um einen fast meditativen Zustand des Spielers, der erreicht werden kann, wenn die Schwierigkeit des Spiels mit den Fähigkeiten des Spielers gleichsam ansteigt.

Auch hier entsteht durch zu viel Freiheit ein Problem: Die Fähigkeiten des Spielers lassen sich noch einigermaßen aus dessen Spielzeit ableiten, die Schwierigkeit eines Spiels mit offener Welt korrekt einschätzen zu können, ist allerdings beinahe unmöglich.

Das kommt vor allem daher, dass sowohl die Gegner, als auch die angewendeten Strategien vom Spieler bestimmt werden und manchmal auch noch abhängig davon sind, auf welche Gegner der Spieler zuvor getroffen ist, oder welche Fähigkeiten ihm überhaupt zur Verfügung stehen. Für den Schwierigkeitsgrad des Spiels entsteht so eine Gleichung mit zu vielen Variablen, als dass sie der Entwickler lösen könnte.

Man könnte annehmen, dass der Spieler um diesen Zustand weiß und sich in der Folge selbst sein Flow-Erlebnis schafft, indem er Gegner gezielt danach auswählt, ob sie seinen Fähigkeiten zum aktuellen Zeitraum entsprechen, oder nicht. In der Realität ist das fast nie der Fall, was zu einem von zwei möglichen Problemen führt:

Entweder entscheidet sich der Spieler für den leichteren Weg, indem er nur Gegner bekämpft, bei denen ein Sieg zu erwarten ist, oder er stellt sich zu großen Herausforderungen, die letztlich zur Frustration führen, falls sie den Spieler nicht sogar dazu bringen, Lücken in der Programmierung des Spiels zu suchen, um besagte Gegner doch noch besiegen zu können.

4. Freiheit ist eine Illusion

Gerade wenn es um verschiedene Dialogoptionen geht, die sich gegenseitig ausschließen, ist die Entscheidungsfreiheit in Videospielen selten mehr als eine Illusion.

Auch wenn sich Spiele größte Mühe geben, diesen Umstand durch Einblendungen à la "X gefällt das" oder "Y wird sich das merken..." zu kaschieren, haben die wenigsten Entscheidungen dieser Form tatsächliche Konsequenzen.

Die Spiele des Studios "Telltale Games" sind besonders bekannt dafür, dem Spieler Entscheidungsfreiheit vorzuspielen.

Das sollte auch nicht verwunderlich sein, wenn man sich die Komplexität einer Spieleentwicklung und das Prinzip der Potenzrechnung genauer anschaut. Selbst wenn jede Entscheidung nur aus zwei Optionen bestehen würde, gäbe es nach nur zehn Entscheidungen bereits 1024 unterschiedliche Handlungsverläufe.

Um mit solchen Zahlen umgehen zu können, werden aus den versprochenen echten Konsequenzen leider selten mehr als leicht veränderte Dialogzeilen. Ist es aber überhaupt ein Problem an sich, dass dem Spieler Handlungsfreiheit vorgegaukelt wird?

Nein, eigentlich nicht. Jedes Spiel ist letztendlich eine große Illusion: Aus zahlreichen miteinander verbunden Dreiecken werden Charaktere, die so tun, als wären sie tatsächlich lebendig. Unterschiedlich gefärbte Pixel erwecken den Anschein, weite Landschaften oder besiedelte Städte zu sein. Spiele (wie alle anderen Formen der Kunst) sind in dieser Hinsicht wie ein Zaubertrick:

Jeder weiß, dass es nur eine Illusion ist und trotzdem erwarten wir von einem guten Zaubertrick, dass er uns diesen Umstand nur für einen kurzen Augenblick vergessen lässt und uns ratlos zurücklässt. Wenn ein Zaubertrick allerdings misslingt oder offensichtlich ist, wie er funktioniert, reißt uns das aus diesem magischen Moment heraus und macht uns wieder schmerzlich bewusst, dass es letztendlich doch nur ein Trick war.

Bei Dialogoptionen ist der Trick viel zu einfach zu erkennen, da echte Konsequenzen selten überhaupt auftreten oder weil unterschiedliche Handlungsstränge zu schnell und zu offensichtlich wieder auf einen einheitlichen Weg zurückgebracht werden.

Spätestens beim erneuten Durchspielen fällt auf, dass die gewählten Dialogoptionen kaum Einfluss auf das Spiel nehmen und die Illusion fällt in sich zusammen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es umso ironischer, dass gerade die Spiele, die sich auf ihre vorgetäuschte Entscheidungsfreiheit verlassen, oftmals mit dem eigenen Wiederspielwert beworben werden.

Das Problem mit Zaubertricks ist, dass jemand, der einmal dahinter gekommen ist, wie der Trick funktioniert, diesen nie wieder mit denselben Augen betrachten kann und zukünftigen Vorstellungen umso kritischer gegenübersteht.

5. Freiheit erzeugt unterschiedliche Erfahrungen

Was erst wie ein Vorteil klingt, kann sich in manchen Fällen als Schwäche herausstellen:

Stark unterschiedliche Spielerfahrungen erschweren beispielsweise jeglichen Diskurs über das Spiel, da eine gemeinsame Grundlage für die Diskussion fehlt.

Wenn sich zwei Spieler des Rollenspiels "The Elder Scrolls V: Skyrim" über das Spiel unterhalten wollen, kann es hilfreich sein, zuerst zu klären, welche Orte, Aufträge, Charaktere und Gegenstände bei den Spielern überhaupt vorgekommen sind, da sonst schnell Missverständnisse auftreten können.

Einige Spiele können von einer öffentlichen Diskussion auf gemeinsamer Basis über das Projekt sogar durchaus profitieren: Das Spiel "Life is Strange", das seinen Fokus auf die bewegende Erzählung legte, erschien in fünf verschiedenen Episoden, die zeitverzögert veröffentlicht wurden, und ließ den Spieler besonders eingegrenzte Bereiche der Welt erkunden.

Der Großteil des Spiels "Life is Strange" findet in der geographisch eingeengten "Blackwell Academy" statt.

Dadurch schufen die Entwickler eine annähernd gleiche Basis für Diskussionen über das Spiel und befeuerten die zahlreichen Theorien von Fans, die über den Fortgang der Handlung und die Entwicklung der Charaktere diskutierten.

Dem Spieler weitestgehende Handlungs- und Bewegungsfreiheit einzuräumen, bedeutet außerdem, dass jeder Spieler nur einen kleinen Teil aller Spielinhalte jemals zu Gesicht bekommen wird. Auch wenn dieser Punkt für große Studios ein kleineres Problem darstellt, ist es für unabhängige Entwickler umso größer:

Um die Leistung des Teams herauszustellen und den geforderten Verkaufspreis zu rechtfertigen, ist es für kleinere Entwicklerstudios besonders wichtig, dem Spieler so viele Inhalte wie möglich zu präsentieren. Da die meisten unabhängig entwickelten Spiele nicht durch die Masse ihrer Inhalte, sondern durch ihre Andersartigkeit, interessante Mechaniken oder einen ungewöhnliche Grafikstil überzeugen, ist die Gefahr, dass sich Spieler an offensichtlich platzierten Inhalten stören, deutlich geringer als bei Titeln, die von millionenschweren Unternehmen in Auftrag geben wurden.

Alles in allem erschwert Freiheit in Spielen einige Aspekte der Spieleentwicklung erheblich: Dazu gehört der Entwurf konsequenter Geschichten und Charaktere, die mit den Handlungen des Spielers im Widerspruch stehen können und die Gestaltung des Pacings und des Schwierigkeitsgrads. Außerdem entsteht durch zu viele Handlungsoptionen ein Überangebot, durch das manche Spieler verunsichert und überfordert werden können. Auch wenn offene Spielmechaniken ein gewisses Risiko bergen, bieten sie zahlreiche Vorteile, die in der Vermarktung von Videospielen bereits täglich herausgehoben werden.

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